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Am Anfang ist das Gefühl

Menschen hören am liebsten die Geschichte, dass der Verdienst der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung unserem herausragenden Intellekt gebührt. Doch diese Sicht ignoriert völlig die evolutionäre Bedeutung der Gefühle. Dabei sind Emotionen, wie z.B. Wut, Freude oder Scham, die Auslöser für alle weiteren – von unserem Gehirn – produzierten Affekte und Handlungen.

 

Am Anfang war Gefühl

Der Impuls, mit der Faust auf den Tisch zu hauen, ist eine typische Reaktion des Gehirns aus dem Affekt Wut. Lächeln kann beispielsweise ein Ausdruck des Affekts Freude sein usw. Das heißt, ohne unsere Empfindungen (das gilt auch für Schmerz bei Verletzungen) hätte unser Gehirn gar keine Information, würden diese nicht zuerst vom Körper gesendet werden. In unserem Körper weiß quasi jede Zelle, was die andere gerade macht und wie es ihr dabei ergeht. Durch Strom, chemische Botenstoffe und Gase laufen permanent interne Rückkoppelungen ab, die zur Stabilisierung (Homöostrase) des Gesamtsystems führen.

 

Hunger, Schmerz, Erstaunen, Scham sind Signale vom Körper, die unseren Verstand erst dazu bringen, nach Antworten oder Reaktionen zu suchen. Damit sind die Gefühle erst der Zündfunke, der unseren Denkapparat startet, um daraus eine Handlung oder Reaktion in Gang zu setzen. All unsere Erfindungen – von der Nahrungsbeschaffung, Bekleidung bis hin zur Energieversorgung oder der Bekämpfung von Krankheiten – verdanken wir unseren emotionalen Bedürfnissen, z. B. nach Gesundheit, Sicherheit und Wärme. Ob diese Bedürfnisse befriedigt sind, erhalten wir wiederum durch ein zuverlässiges Feedback unserer Gefühle, hinsichtlich der Qualität der Lösungen. 

 

 


Dem Verstand fehlt ein Motiv

Der Glaube, dass der Verstand die primäre Triebfeder ist, erweist sich durch die mittlerweile fundierten biologischen Erkenntnissen, als Irrglaube. Bakterien sind z.B. trotz ihrer simplen Konstitution in der Lage, bestimmte Informationen ihrer Umgebung zu verarbeiten. Diese Fähigkeit ist nicht nur die Vorstufe von Emotionalität, sondern führt auch zu einfachen Formen von kultureller Organisation, wie ebenso „moralischen Verhaltens“. Manche Bakterienarten kommen in Gruppen bzw. Kolonien zusammen, um den Zugang zu Ressourcen zu verbessern oder um sich gegen Feinde zu verteidigen. Wenn dabei einzelne Mitglieder die Kooperation verweigern oder versuchen, in egoistischer Weise vom Verhalten der Mehrheit zu profitieren, werden sie von den anderen zurechtgewiesen, sogar aus der Gruppe ausgeschlossen. Emotionen sind von Anfang an, ein zentraler Teil der evolutionären und kulturellen Entwicklungsgeschichte. 

 


Affekte

Emotionale Reaktionen (Affekte) spielen eine enorm wichtige Rolle, denn sie verbreiten Informationen über den aktuellen Zustand des Körpers und sind die Kontrollfunktionen für lebenserhaltende Prozesse. Gefühle spiegeln wider, wie es in unserem Inneren bestellt ist. (lesen Sie im Artikel „Think right“ mehr dazu) Und je bewusster wir unsere Gefühle wahrnehmen, desto gezielter können wir darauf reagieren. Um den Zustand unserer Umgebung in unserem Sinne zu beeinflussen, sind Gefühle die Auslöser, die uns zu einem gezielten Handeln motivieren. Letztlich gilt das auch für alle kulturellen Innovationen.  

 

Dennoch sind Gefühle ein „junges Phänomen“. Besteht die Homöostase bereits seit ca. 3,8 Milliarden Jahren, so brauchten Gefühle zuerst ein Nervensystem, das vor etwas 600 Mio. Jahren entstand. Erst durch die Entwicklung des Nervensystems konnte die Rückmeldung über die Vorgänge im Körper – durch die Gefühle - ans Gehirn übermittelt werden. Die Fähigkeit zur bewussten Wahrnehmung markierte einen absoluten Durchbruch in der Evolution. Ein Organismus, der Bedürfnisse und Störungen in seinen inneren – zum Leben wichtiger – Vorgänge erkennen und darauf reagieren kann, war eindeutig überlebensfähiger als andere Lebensformen. Doch das war erst der Anfang einer noch erstaunlicheren Entwicklung. Diese Fähigkeit wurde zur wesentlichen Grundlage kreativer (menschlicher) Intelligenz

 

 


Gefühl und Verstand - Hand in Hand

Viele glauben, dass es (in uns) zwei verschiedene Systeme - emotional vs. rational, Bauch vs. Kopf usw. - gibt, die sich manchmal widersprechen oder sogar „gegeneinander kämpfen“. Diese Vorstellung ist schlichtweg falsch und noch viel wichtiger, weil es das (sich) Selbst-bewusst-sein verhindert und somit auch die Wahrnehmung für unser inneres Befinden, genauer gesagt, Krankheit oder Gesundheit. Krankheit entsteht nicht von heute auf morgen, sondern ist ein Prozess, entstehend durch unsere Lebensumstände, Geisteshaltung und den bewussten Umgang mit uns selbst. Emotionen informieren über das gesamte Spektrum der inneren Zustände und Empfindungen, dieser Umstand gilt heute wissenschaftlich fundiert und anerkannt. Sie sind durch und durch qualitative Er-Leb-nisse und lassen uns den aktuellen Zustand unseres Innenlebens erfassen. 

 

Die Verbindung zwischen Kopf und Körper ist fließend und nicht voneinander geteilt oder sogar getrennt. Emotionen sind das „gefühlte Ergebnis“ dieses Zusammenspiels. Unser Kopf (Geist) kann unseren Körper so sehr beeinflussen und umgekehrt von Körper gleichzeitig zu jedem Zeitpunkt beeinflusst werden. Wie stark diese Beeinflussung ist zeigen unter anderem aktuelle Experimente von Dr. Alia Crum (siehe video). Rationalität und Emotionalität sind nicht zwei Paar Schuhe, sondern werden erst später aus unterschiedlichsten Gründen – kulturellen, gesellschaftlichen o.a. – dazu gemacht. Bei Kindern zeigt sich die Verbindung  noch klar und deutlich. 

 


Buchtipp

Antonio Damasio 

"Am Anfang war das Gefühl"

Der biologische Ursprung menschlicher Kultur


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